„Die Großmächte haben Kontrolle in Syrien verloren.“

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Der Nahostexperte und Autor Dr. Gerhard Schweizer war am 6. Oktober zu Gast in Graz, wo er einen Vortrag zum Thema „Syrien verstehen“ hielt. Im Interview spricht er über die Ursachen des Bürgerkriegs und die Chancen auf Frieden.

Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Religionsgemeinschaften im ehemals säkularen Syrien heute derart brutal bekämpfen?

Gerhard Schweizer: Ich war öfters in Syrien und habe viele der Menschen als offen und gastfreundlich erlebt. Es herrschte weitgehend Toleranz gegenüber anderen Religionen. Und das geschah in einem Land mit vielen Religionen. Etwa 70 Prozent der Syrer sind Sunniten, etwa 11 Prozent Alawiten, etwa 10 Prozent Christen, rund 3 Prozent Drusen, rund 2 Prozent Schiiten. Der Diktator Baschar al-Assad ist Alawit, und das Problem hierbei ist, dass diese schiitisch geprägte Sekte von der Mehrheit der Sunniten als „ketzerisch“ und „ungläubig“ angesehen wird.  Ein mühselig ausbalancierter Friede zwischen den unterschiedlichen Religionen konnte nur funktionieren, solange der Assad-Klan, der 1970 durch einen Militärputsch an die Macht kam, erfolgreich Sozialpolitik betrieb. Das geschah vor allem in den 1970er Jahren. Hafis al-Assad, der Vater des jetzigen Diktators, hat die allgemeine Schulpflicht und das Wahlrecht für Frauen eingeführt, außerdem die Rechte der religiösen Minderheiten verbessert.  Baschar al-Assad hat nach dem Tod des Vaters im Juni 2000 an diese Reformpolitik angeknüpft. Als aber das Assad-Regime immer mehr in Korruption versackte und die Mehrheit des Volkes nicht ausreichend von den versprochenen Reformen profitieren konnte, kam es 2011 zum Aufstand.

Dieser Aufstand gegen Korruption und Despotie fand 2011 allerdings nicht nur in Syrien, sondern in vielen arabischen Ländern des Nahen Ostens statt – und dies im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings. Aber in Syrien wurde aus dem ursprünglich politisch-sozialen Konflikt ein politisch-religiöser Konflikt, weil radikalisierte Sunniten die „ketzerische“ alawitische Minderheit von der Macht vertreiben wollten. Die Situation war ähnlich explosiv wie im ebenfalls multi-religiösen Nachbarstaat Irak.  In Syrien entwickelte sich ein Bürgerkrieg, wie er ein Jahrzehnt zuvor schon im Irak begonnen hatte: Politische Frontlinien deckten sich zunehmend mit religiösen Gegensätzen. Es war vor allem ein Kampf zwischen sunnitischen und schiitischen Glaubensrichtungen wie auch zwischen säkularen und islamistischen Gruppierungen. In Syrien und im Irak gewannen schließlich grenzübergreifend radikal-islamische sunnitische Organisationen wie die Al-Qaida, vor allem aber der Islamische Staat, der IS, einen verheerenden Einfluss.

Wie schätzen Sie die Terrormiliz IS ein? Was kann der Westen dagegen tun?

Schweizer: Der IS ist bekanntlich eine radikal-religiöse Bewegung, die rigoros beansprucht, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Alle Andersgläubigen und Andersdenkenden, auch in den Reihen der Muslime, müssen fanatisch bekämpft werden. Im Grunde ist das ein ähnlicher Geist, wie er in Europa bei radikalisierten Christen zur Zeit des 30jährigen Krieges herrschte.  Man muss aber klar sagen, dass nahezu 90 Prozent der Muslime den IS mehr oder weniger ablehnen. Viele Anhänger des IS haben nur wenig Ahnung vom Koran und legen die Texte entsprechend eng und missverständlich aus. Das ist eine Frage der Bildung. Aber die radikalen Fundamentalisten üben eine Faszination zumindest auf ungebildete und sozial benachteiligte Muslime aus, denn sie versprechen einen grundlegenden sozialen Wandel. Der IS hat in den eroberten Gebieten des Irak wie in Syrien Sozialprogramme durchgeführt – und konnte damit gesellschaftlich Unterprivilegierte ködern. Diese sozialen Projekte wie auch die Lieferung von Waffen wurden großteils von Saudi-Arabien finanziert, das ebenfalls radikal-islamisch orientiert ist. Um den IS zu bekämpfen, muss man vor allem die Geldquellen stoppen.  Saudi-Arabien hat dies inzwischen getan, weil seit 2015 der IS auch zur Gefahr für den Geldgeber wurde – und siehe da:  Der IS hat ohne Hilfe von außen inzwischen fast 50 Prozent seines Gebietes wieder verloren.

Wie könnte eine Friedensordnung für Syrien aussehen?

Schweizer: Das ist im Augenblick ganz schwierig. Bei den Konfliktparteien in Syrien gibt es noch nicht die Einsicht, dass der Krieg militärisch kaum zu gewinnen ist, deshalb wird trotz immer größerer Verluste weitergekämpft. Aber auch die Regionalmächte und die Großmächte, die aus politischem Eigeninteresse am Bürgerkrieg mitwirken, können sich nicht auf einen Friedensplan einigen, denn ihre Interessen sind zu unterschiedlich. Mehr noch: Die dominierenden Regionalmächte wie Iran, Türkei und Saudi-Arabien wie auch die Großmächte Russland und die USA haben die Kontrolle über die kriegerischen Konfliktparteien in Syrien und im Irak verloren. Der syrische Bürgerkrieg wird in seinen feindlichen Gruppierungen immer unübersichtlicher. Auch die islamistischen Organisationen gegen Assad sind untereinander heillos zerstritten über die Frage, was die Nachkriegsordnung betrifft. Ich denke, dass Syrien als Nationalstaat in der bisherigen Form nicht mehr möglich ist – was im selben Maß auch für den Irak gilt. Syrien wie der Irak sind in Teilstaaten zerfallen, wo entweder religiöse oder ethnische Gruppierungen in strenger Abgrenzung regieren. Besonders die Kurden sind an aufgeteilten Regionen interessiert, denn sie sehen jetzt ihre Chance auf einen eigenen Staat endlich gekommen. Es gibt auf allen Seiten ethnische und religiöse Säuberungen großen Stils, die kaum mehr rückgängig zu machen sind.

In Europa ist der Syrienkrieg auch durch die wachsende Zahl an Flüchtlingen ein großes Thema. Es gibt einerseits Hilfsbereitschaft, aber auch viel Angst, Ablehnung, Nationalismus. Wie kann man ein friedliches Zusammenleben fördern?

Schweizer: In den Ländern rund um Syrien leben Millionen syrischer Flüchtlinge. Die meisten Syrer wollten aus den Lagern in Jordanien, Libanon und Türkei eigentlich gar nicht weg. Sie hatten gehofft, dass der Krieg in ihrer Heimat nicht lange dauern würde und sie dann nach Syrien zurückkehren könnten. Erst als der Westen 2015 die Gelder für die Flüchtlingsversorgung massiv kürzte, kamen die ersten Flüchtlingswellen nach Europa – Jahre nach Kriegsbeginn. In Europa profitieren von einer solchen Entwicklung vor allem die Rechtspopulisten, die mit ihrer Intoleranz und der Angst vor den Fremden eigentlich gut zu radikalen Islamisten passen. Die Kirchen hingegen, zumindest in Österreich und Deutschland – nicht in Osteuropa – sind in ihrer Haltung gegenüber Flüchtlingen hilfsbereit, das gilt auch für eine Reihe politischer Parteien.  Eine derartige Entwicklung hin zu mehr religiöser Toleranz und Weltoffenheit ist allerdings auch in Europa ein langer schwieriger Weg gewesen.

Zur Person:
Dr. Gerhard Schweizer, 1940 in Stuttgart geboren, promovierte an der Universität Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft und lebt heute in Wien. Seit 1960 ist er im islamischen, indischen und fernöstlichen Kulturraum unterwegs. Einem breiten Publikum wurde er vor allem durch seine Bücher über die politischen und religiösen Konflikte zwischen der islamischen und westlichen Welt bekannt.
Zuletzt erschienen von ihm  Syrien verstehen. Geschichte, Gesellschaft und Religion  sowie Islam verstehen. Geschichte, Kultur und Politik  und Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdogan.

Interview: Christian Köpf

Syrien verstehen – Leseprobe