„Die Seele dieser Länder ist verwundet.“

Foto: Ernst Zerche

Der ungarische Theologe Andras Mate-Toth sprach in Graz über die Entwicklung in Ostmitteleuropa seit der Wende.

Vor 30 Jahren läutete der Fall der Berliner Mauer in den „Ostblockstaaten“ die Wende vom Kommunismus hin zu Demokratie und wirtschaftlicher Öffnung ein. In den Rückblick auf die historischen Ereignisse mischt sich heute die Sorge um den zunehmenden Populismus, Nationalismus und autoritäre Tendenzen in Europa. Ist die Wende in einer Krise? Dieser Frage ging der ungarische Theologe András Máté-Tóth in seinem Vortrag am 26. November im Barocksaal im Grazer Priesterseminar nach.

Erste Hälfte der Spielzeit

Rund um die Wende sei es zu Missverständnissen gekommen, meinte Máté-Tóth: „In den westlichen Gesellschaften dachte man: Nun wird im Osten alles normal, so wie bei uns. Im Osten war man der Meinung, wenn die Russen nach Hause gehen, kommt der Wohlstand. Doch so war es nicht.“ Mit einem Zitat des Soziologen Ralf Dahrendorf mahnte er zur Geduld: „Ein politisches System kann man in sechs Monaten abbauen. Aber ein neues System kann man vielleicht in 60 Jahren aufbauen.“ Zwar könne man zurecht besorgt um Europa sein, aber – in Analogie zum Fußball – „befinden wir uns erst in der ersten Hälfte der Spielzeit.“

Für ihn persönlich sei die Wende eine Lebenswende gewesen: „Ich habe die Freiheit erfahren.“ Neben der eigenen Betroffenheit sei es wichtig, die Fakten zu kennen – gerade in Zeiten von „Fake-News“. Wesentlich sei es auch zu erkennen, welche Erinnerungs-Hegemonien es in einer Gesellschaft gäbe. Es folgte ein kurzer historischer Rückblick: Von den Protesten in Peking im Juni 1989 und der „singenden Revolution“ in den baltischen Staaten über den Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, der Hinrichtung Ceaușescus in Rumänien und der Wiedervereinigung Deutschlands bis zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien.

Ohne Karte im Dschungel

Die Entwicklung in Ostmitteleuropa seit der Wende erklärte der Theologe so: „Die Seele dieser Länder ist verwundet. Die Menschen lebten immer in einer geopolitischen Situation zwischen zwei, drei großen Hegemonien. Über Jahrhunderte waren sie nicht imstande, sich selbst zu behaupten. Diese dramatische Geschichte steckt in unseren Genen.“ Neben der staatlichen Souveränität sei heute die Freiheit ein zentraler Wert, betonte der Professor für Religionswissenschaft. Er verwies auf freie Wahlen, Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit. Meilensteine seien auch die Kontrolle durch die Verfassung, die Bildung einer Zivilgesellschaft, die Einbindung in die EU und die freie Marktwirtschaft. Auf dem Weg dorthin sei man jedoch naiv vorgegangen: „Man hatte keine Ahnung von diesen Werten und ist in diesen Dschungel ohne Karte hineingegangen.“ Eine Markwirtschaft zu errichten, sei das eine. Wie man damit umgehe, sei eine andere Sache.

Der tief verankerte Wunsch nach Autonomie mache es in Ostmitteleuropa so schwierig, fremde Menschen aufzunehmen. „Im demokratischen Raum muss man Gegensätze aushalten und austragen“, meinte Máté-Tóth Er plädierte dafür, gemeinsam Visionen für eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, „innerhalb unserer Länder, in Europa und in anderen Kontinenten.“

Zur Person: András Máté-Tóth ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Szeged und Lehrender am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. 1982 musste Máté-Tóth aus politischen Gründen das Priesterseminar und die Hochschule verlassen und konnte sein Studium nur als außerordentlicher Hörer fortsetzen. In den folgenden Jahren konnte keinen seiner Ausbildung entsprechenden Beruf ausüben und war als Bibliothekar, Krankenpfleger und Hilfsarbeiter tätig. 1991 promovierte er am Institut für Pastoraltheologie in Wien zum Doktor der Theologie.

Eine Veranstaltung von Welthaus in Kooperation mit Pro Oriente, Katholisch-Theologische Fakultät der K.-F.-Universität Graz, Katholisches Bildungswerk, Caritas Steiermark, Katholische Hochschulgemeinde, Katholische Aktion, Kirchen Kultur Graz, Stadtpfarrkirche Graz.