Fotos: Ernst Zerche

„Sie nehmen das jetzt in die Hand“

Er hat das Welthaus 37 Jahre lang geleitet, nun geht Dietmar Schreiner in Pension. Ein Interview über Jahrzehnte im Einsatz für globale Gerechtigkeit, den Einfluss von Fridays for Future und die Folgen der Corona-Pandemie.

Der Einsatz für Menschenwürde und Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen von Welthaus seit der Gründung 1970. Die leitest das Welthaus seit 1984 als Geschäftsführer, was meinst du, sind wir dem Ziel „globale Gerechtigkeit“ in diesen 37 Jahren ein Stück näher gekommen?
DIETMAR SCHREINER:
Ja, durchaus. Das liegt natürlich nicht nur am Welthaus, sondern etwa an den UNO-Maßnahmen mit den Millenniumszielen und den Nachhaltigkeitszielen. So hat sich die Zahl der in Armut lebenden Menschen und der Hungernden im Lauf der Zeit entschieden verbessert. Auch bei der Demokratisierung gab es in vielen Ländern Fortschritte. In einigen Ländern hat sich die Situation aber auch verschlechtert.

Was konnte Welthaus zu der positiven Entwicklung beitragen?
Also auf jeden Fall die Unterstützung der verschiedensten Basisorganisationen – vor allem in Lateinamerika, aber auch in afrikanischen Ländern –, wodurch viele Menschen befähigt wurden, sich politisch einzubringen und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Dazu hat Welthaus sicher beigetragen, auch wenn der Beitrag global gesehen klein sein mag.

Aber ist der Aufstieg von hunderten Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelschicht nicht doch hauptsächlich der Globalisierung und dem Kapitalismus zu verdanken?
Nun, China hat den Aufstieg natürlich durch den Wechsel vom kommunistischen System zum kapitalistischen geschafft, das ist schon richtig. In vielen anderen Ländern würde ich das nicht so sehen. In Brasilien zum Beispiel gab es auch die umgekehrte Entwicklung, dass viele Menschen wieder aus der Mittelschicht in die Armut abgerutscht sind. Ich denke, man kann das insgesamt nicht nur am Wirtschaftssystem festmachen, Armutsbekämpfung hängt mit vielen verschiedenen Faktoren zusammen.

Was kann dabei die Entwicklungszusammenarbeit bewirken?
Dass Menschen sich ihrer Situation bewusster werden und darüber, wie sie sie verändern können. Das ist denke ich das Um und Auf. Dort, wo man nur assistenzialistisch hilft, verändert man die Situation nicht. Wichtig ist, Menschen die Möglichkeit zu geben, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

War das in der Arbeit von Welthaus von Anfang an klar?
In den 1970er war ich ja noch nicht dabei. Aber zu der Zeit, als ich in den 1980ern angefangen habe, gab es in der entwicklungspolitischen Szene schon einige Kampagnen wie „Hunger ist kein Schicksal“ oder „Armut wird gemacht“. Man hat da schon gesehen, dass assistenzialistische Hilfe zwar kurzfristig hilft, um akute Not zu beseitigen, aber nicht um die Situation wirklich zu verändern.

Was meinst du mit „assistenzialistisch“?
Also, wenn man den Menschen Essen, Medizin oder Unterkunft gegeben hat. Man hat sie aber nicht befähigt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Das wurde damals in den Projekten von Welthaus auch unterschiedlich umgesetzt. Natürlich gab es auch Projekte, wo man beispielsweisen ein Krankenhaus mitfinanziert hat. Präventivmedizin oder gesunde Ernährung waren kein Thema. In den 1980ern hat sich das dann in Richtung Empowerment entwickelt.

Du hast im Lauf der Zeit viele Projekte von Welthaus rund um die Welt besucht. Was hat dich am meisten beeindruckt?
Da gibt es eine ganze Menge. Wenn ich die Anfangszeit anschaue, wo ich ein Projekt in Tansania besucht habe. Das erste Mal, als ich dort mit einem Mitarbeiter vom IIZ hinkam, haben die Leute in dem Dorf gesagt: „Ihr wisst ja, was für uns richtig ist.“ Und wir mussten ihnen zuerst einmal beibringen: „Nein, wir wissen das nicht. Wir können euch nur bei etwas unterstützen, dass ihr selbst macht.“ Und das hat sich dann innerhalb von wenigen Jahren verändert. Es gab in den Dörfern immer mehr Menschen, bei denen man gesehen hat: Sie möchten etwas verändern, sie nehmen das jetzt in die Hand. Da gibt es eine Reihe von menschlichen Begegnungen, wo ich mir wirklich gedacht habe: Toll, da hat sich etwas getan. Ein bisschen anders war es bei den Besuchen in Chile in den 1990er Jahren. Da waren Gewerkschaften und Genossenschaften unsere Partner, die schon viel aktiver darin waren, sich Rechte zu erkämpfen. Da gibt es eine Reihe von Menschen, die ich kennengelernt habe, die mit Engagement für sich und andere eintraten und die dadurch auch Schwierigkeiten bekamen. Auch sehr beeindruckend waren Erlebnisse in Guatemala, wo man gespürt hat, wie sehr Indigene ausgegrenzt wurden. Wenige von den Nichtindigenen setzten sich für ihre Rechte ein und versuchten, ihre Situation zu verändern. Im Laufe der Zeit gab es viele Begegnungen mit Menschen, die beigetragen haben, Veränderungen hin zum Positiven zu bewirken.

In den 1990er Jahren wurde das Welthaus auch in Ost-/Südosteuropa aktiv. Wie kam es dazu?
Der Anstoß dazu kam vom damaligen Bischof Weber. Am Anfang haben wir stärker kirchliche Strukturen unterstützt, aber auch schon in dem Sinne, dass sie sich für die Menschen einsetzen. Zum Beispiel in Ungarn, da hat die Kirche die psychologische Betreuung von Krankenpflegepersonal wahrgenommen. Wir haben aber bald auch mit anderen Partnern zusammengearbeitet. Was man einfach generell sehen muss: Es gibt nicht „die Entwicklungsländer“ als klar abgegrenzte Gruppe und die anderen, denen es gut geht. In der Slowakei etwa sind wir immer noch dran, Roma zu unterstützen. Obwohl sie eine große Minderheit darstellen, werden sie von der slowakischen Politik immer wieder ignoriert. Das heißt, es gibt auch in Europa in vielen Ländern Armut, genauso wie es Südafrika oder Brasilien auch sehr viele Reiche – und trotzdem sehr viel Armut – gibt. Man darf nicht nur auf die Globalzahlen schauen, sondern: Wo gibt es Ausgegrenzte und Arme und für sie tätig werden. Natürlich ist es nicht ganz verständlich, wie in EU-Mitgliedsländern wie der Slowakei, in Bulgarien und Rumänien diese Art von Armut so lange aufrechterhalten wird. Da wäre sicher der Druck vonseiten der EU notwendig, damit sich mehr zum Positiven verändert.

Du hast im Welthaus schon in den 1980er Jahren neben der Projektförderung auf Angebote zum Globalen Lernen gesetzt. Warum?
Das ist einerseits eine Strukturfrage: Wir waren ja nicht nur das Sekretariat der damaligen „Diözesankommission für Weltkirche und Entwicklungsförderung“, sondern auch Regionalstelle des ÖIE, dem heutigen Südwind. Die anfängliche Arbeitsaufteilung war so, dass die Projekte vom Vorsitzenden wahrgenommen wurden und ich das Protokoll der Sitzungen geschrieben habe, sonst war meine Hauptaufgabe, Bildungsarbeit in der Steiermark zu leisten. Damals lief das noch unter Titeln wie „Dritte-Welt-Pädagogik“, aber es war im Prinzip schon das, was wir heute unter „Globalem Lernen“ verstehen. Als der ÖIE dann aus unseren Büroräumen auszog, haben wir das als Welthaus weitergeführt. Es gab einen Beschluss im Arbeitsausschuss, 20 Prozent unseres Budgets für Bildungsarbeit zu verwenden. Das war für kirchliche Organisationen damals eher ungewöhnlich, aber durch die Geschichte mit dem ÖIE war es klar, dass wir da tätig sein müssen. Wir haben uns dann schnell auf den Schulbereich spezialisiert und auch eigenes Personal für Bildungsarbeit angestellt. Solange ich dabei bin, war das immer ein wichtiger Punkt, nicht nur im Ausland tätig zu sein, sondern auch im Inland Bildungsarbeit zu betreiben. Darunter fielen damals auch viele Kampagnen, die wir heute eher als Anwaltschaftsarbeit bezeichnen.

Was bedeutet Anwaltschaftsarbeit im Kontext von Welthaus?
Es war von Anfang an klar, dass die Situation in den Projektländern nicht nur durch eine Veränderung vor Ort möglich ist, sondern dass es notwendig ist, die globalen Rahmenbedingungen zu ändern, vor allem im Handels- und Agrarbereich. Am Anfang war Bildungsarbeit damit immer verbunden. Später hat man sie dann auf das Bilden in Österreich eingegrenzt. Politische Arbeit durfte es keine sein, das kam vor allem von öffentlichen Geldgebern. Die Frage war: Wie kann man trotzdem Politik beeinflussen, so, dass keine Maßnahmen getroffen werden, die Menschen in Entwicklungsländern schaden. Da wir in ländlichen Regionen tätig waren, war dabei der landwirtschaftliche Bereich vorranging. Und da passiert halt sehr viel: Wenn etwa österreichische Produkte, zum Beispiel billiges Hühnerfleisch, exportiert werden und lokale Märkte kaputt machen. Das ist etwas, was auf europäischer Ebene verändert werden muss. Und da sind wir schon längere Zeit dran. Das passiert, indem man mit politisch Verantwortlichen das Gespräch sucht und sich mit anderen Organisationen vernetzt und gemeinsam versucht, Verbesserungen zu erreichen. Das gelingt schwer, aber immer wieder doch. Und wenn es gelingt, betrifft es meistens eine große Anzahl an Menschen.

Bewusster Konsum, nachhaltiger Lebensstil, weniger ist mehr. Das sind so Schlagworte, die man oft hört, wenn es in Workshops oder bei Veranstaltungen um „Lösungen“ für globale Problemen geht. Müsste man aber nicht eigentlich statt bei den Konsumenten viel stärker bei der Politik und den Machtstrukturen ansetzen, um globale Ungerechtigkeiten zu beseitigen?
Freilich. Bei der Landwirtschaft etwa führt das Prinzip, wie Förderungen vergeben werden, dazu, dass kleine Bauern bei uns nicht viel davon haben und dass durch die Exporte auch Bauern im Ausland in Schwierigkeiten kommen. Da wäre noch wesentlich mehr an politischer Einflussnahme notwendig. Wenn man in Argentinien und Brasilien riesige Flächen rodet und die Lebensgrundlagen von Indigenen zerstört, nur damit man Soja anbaut, das bei uns als Tierfutter verwendet wird, anstatt bei uns den Anbau von Eiweißfuttermitteln zu fördern. So könnte man sowohl die hiesige Landwirtschaft fördern und gleichzeitig verhindern, dass Lebensbedingungen von Menschen woanders verschlechtert werden. Das ist hauptsächlich eine politische Sache. Natürlich muss sie von der Bevölkerung einigermaßen mitgetragen werden. Daher sind die Aufrufe zum bescheideneren Leben nicht schlecht, weil sie bewusst machen, dass wir eigentlich auf Kosten von Menschen in anderen Ländern leben.

Wie siehst du in diesem Zusammenhang die Fridays for Future Bewegung?
Schade, dass es diese Bewegung nicht in mehreren Bereichen gibt. Für das Klima ist es notwendig, dass sich da etwas tut. Ich finde es toll, dass sich so viele vor allem junge Leute sehr engagieren und nicht brav kuschen und sich um den eigenen Vorteil kümmern. Wir unterstützen die Fridays for Future dabei ja auch immer wieder.

Was waren für dich Meilensteine in der Bildungsarbeit von Welthaus?
Es ist schwer, einzelne Ereignisse zu nennen. Aber in der Arbeit mit Lehrerinnen und Lehrern war es immer wichtig, sie dafür zu gewinnen, dass sie sagen: Ich möchte in meinem Unterricht stärker die globale Situation von unten darstellen. Also nicht nur irgendwelche globale Zahlen zu thematisieren, sondern zu zeigen: Wie geht es konkreten Menschen? Daraus hat sich dann das Projekt „Begegnung mit Gästen“ entwickelt, das ich für einen ganz entscheidenden Fortschritt halte. Dabei ist es uns gelungen, dass Leute hier bei uns durch persönliche Begegnungen deutlicher wahrnehmen konnten, wie Menschen woanders leben. Umgekehrt haben sie auch vermittelt, wie die Situation hier bei uns ist, zum Beispiel im bäuerlichen Bereich. Ich denke, dass dieses und ähnliche Projekte, auch in Kooperation mit anderen NGOs, der Blick auf das Leben in anderen Ländern mittlerweile im Schulalltag Einzug gehalten hat. Das war nicht der Fall, als ich angefangen habe. Diese Veränderung der Sichtweise beim Lehrpersonal halte ich schon für wichtig. Wie weit es gelingt, dass auch allen SchülerInnen zu vermitteln, ist natürlich eine andere Frage.

Meinst du, dass auch gesamtgesellschaftlich heute mehr Bewusstsein für globale Zusammenhänge da ist als 1984?
Ja, eindeutig. Natürlich gibt es nach wie vor Leute, die sagen: Wir müssen zuerst auf uns schauen, wie es etwa Trump mit „America first“ artikuliert hat. Aber ich glaube, die Schulabsolventinnen sind mit der globalen Ungerechtigkeit alle einmal konfrontiert worden, also sie haben das Wissen grundsätzlich verfügbar. Wie sie dann damit umgehend, ist eine andere Frage.

Seit über einem Jahr dominiert Corona unser Leben. Es gibt Millionen Tote und zig Millionen teils schwer Erkrankte, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind noch gar nicht absehbar. Viele befürchten, dass Fortschritte in der Armutsbekämpfung durch die Pandemie wieder zunichte gemacht werden. Wie siehst du das?
Das glaube ich auf jeden Fall. Es trifft viele Entwicklungsländer sehr stark, die auch an Impfstoffe nur schwer herankommen. Vieles, was erreicht wurde, wird kaputt gehen. Sei es, weil durch die Lockdowns viele verarmen. Oder weil jene, die in den Familien für das Einkommen wichtig waren, gestorben sind. Was ich auch feststelle, ist der stärker werdende Nationalismus – sowohl durch Abschottung und Lockdowns, aber auch bei den Impfungen. Ich befürchte auch, dass – wenn es um den Abbau der Schulden durch die Krise gehen wird – weniger Geld für die Entwicklungszusammenarbeit da sein wird. Dabei hat uns ja gerade die Pandemie vor Augen geführt, wie vernetzt die ganze Welt ist. Wenn es gelingen würde, die Menschen aus der Armut in die Mittelschicht zu bringen, auch für uns weniger Gefahren da wären.

Ist das nicht ein großes Dilemma: Wir sollen wieder mehr investieren, produzieren, konsumieren, damit die Wirtschaft wächst und es am Arbeitsmarkt aufwärts geht. Andererseits würde aber die Klimakrise verlangen, unseren aufwändigen Lebensstil radikal einzuschränken. Wie soll denn das zusammen gehen?
Ich bin kein Wirtschaftsfachmann. Aber es gibt viele Stimmen, die sagen, durch den ökosozialen Umbau würden wir mehr Arbeitsplätze schaffen und hätten die Chance, ein gesundes Wirtschaftssystem zustande zu bringen. Wichtig wäre dabei auf jeden Fall auch, die Entwicklungsländer einzubeziehen.

Gibt es etwas, was du dem Welthaus für die Zukunft wünscht?
Weiterhin so eine sichere finanzielle Basis durch die Diözese wie in den letzten Jahren. Weiterhin gute Beziehungen zu den anderen entwicklungspolitischen NGOs mit vielen Kooperationen. Und dass das Welthaus den Digitalisierungsschub gut mit dem sehr persönlichen Arbeiten, das immer unsere Stärke war, verbinden kann – sowohl zum Nutzen der Menschen in Entwicklungsländern als auch in Österreich.

Interview: Christian Köpf