Svetlana Shut (Verein Viden) und Agnes Truger (Welthaus) und sprechen im Zoom-Interview über den Krieg in der Ukraine und die gemeinsame Hilfe.
Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar war ein Schock für uns alle. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
SVETLANA SHUT: Der Geist des Krieges lag schon länger in der Luft. Doch bis zuletzt glaubten wir nicht, dass es geschehen würde. Und auch jetzt, nach eineinhalb Jahren, blicken wir auf diese irreale Welt und fragen uns: Wie konnte das passieren? Am 24. Februar um vier Uhr in der Früh weckte mich ein Anruf. Meine Kollegin war dran, sie sagte: „Der Krieg ist ausgebrochen.“ Ich ging zum Fenster, hörte laute Explosionen. Unsere Stadt liegt nahe der russischen Grenze, hier marschierten die russischen Soldaten zu Beginn ein.
Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffeee. Ich war im Schockzustand, wusste nicht, was ich tun sollte. Gemeinsam mit den Kolleg:innen entschieden wir, alle sensiblen, persönlichen Unterlagen aus dem Büro zu holen. Das war nicht so einfach, da es kaum sichere Plätze in der Stadt gab. Am gleichen Tag waren die Regale in den Lebensmittelgeschäften leer, man konnte kaum mehr Brot finden.
Was mich in diesen ersten Stunden beruhigt hat, war ein Anruf von Agnes. Sie sagte: Bitte ruhig bleiben, alles wird gut, wir werden euch weiter unterstützen. Diese Worte haben mir als Leiterin die Möglichkeit gegeben, auch andere zu beruhigen: Wir können weiter arbeiten, wir werden nicht im Stich gelassen. Es war ganz wichtig, in diesen Tagen solche Sätze zu hören. Wir fingen also an, Lebensmittel zu organisieren: kleine Lieferungen von lokalen Unternehmen. Es war nicht einfach, aber irgendwie haben wir es geschafft. So konnten wir bis zu 200 Familien am Tag versorgen. Unsere Lieferanten haben dabei ihr Leben riskiert, weil die Stadt völlig eingekesselt war. Zwei Monate lang waren wir praktisch getrennt vom Rest der Welt. Jederzeit bestand die Gefahr, erschossen zu werden. Die Situation war für alle schwer, aber ganz besonders für Alleinstehende, Alte, Behinderte. Diese Menschen haben wir zu Hause mit warmen Essen versorgt.
Wie hat Welthaus auf den Kriegsausbruch in der Ukraine reagiert?
AGNES TRUGER: Die Lage von Alleinstehenden und alten Menschen war bereits im Herbst 2021 durch Preissteigerungen sehr schlimm. Wir überlegten also, wie wir bedürftige Menschen mit Hilfspaketen unterstützen könnten. Mit Kriegsausbruch war mir klar, dass nun viel Leid und Flüchtlingsbewegung in Gang gesetzt wird. Klar war ebenfalls: Wir können unsere Partner nicht im Stich lassen. Wir kennen ihre Fähigkeiten, wir wissen, dass sie gut im organisieren sind, strukturiert, wohlüberlegt, und auch in Krisensituationen weiter agieren können. Auch im Krieg muss man überleben und – so weit es geht – versuchen, ein normales Leben zu führen. Und das haben wir versucht zu vermitteln: durch Zuspruch und durch finanzielle Unterstützung.
Wie kann man sich die Zusammenarbeit in so einer Ausnahmesituation vorstellen?
TRUGER: Krieg in Europa im 21. Jahrhundert ist eine neue Erfahrung für uns alle. Zum Glück konnten wir per Internet und WhatsApp den Kontakt halten. Natürlich haben wir aufgepasst, was wir sagen. Ich wollte nichts Persönliches fragen, wir haben nicht viele Namen genannt und so weiter. Aber so war es möglich, in Österreich am Laufenden zu sein. Da es immer wieder Stromausfälle gibt, reden wir eben dann, wenn es Strom gibt und die Akkus aufgeladen sind.
Wir haben immer gesagt: Es ist besser, wenn die humanitäre Hilfe, die Lebensmittelpakete vor Ort organisiert werden. Wir haben keine Lieferungen aus Österreich veranlasst – es ist gefährlich, es sind große Entfernungen zurückzulegen und wir können hier den Bedarf schwer erkennen. So wagten wir, auch in den Monaten der Besatzung Überweisungen zu tätigen. Es hat nicht reibungslos funktioniert, aber es ist doch gelungen und das Risiko sind wir eingegangen. Nur dank unserer Spender:innen war es möglich, diese Hilfe zu leisten.
Nur dank unserer Spender:innen war es möglich, diese Hilfe zu leisten.
Agnes Truger, Welthaus
Svetlana, der Krieg dauert bereits mehr als 16 Monate. Wie geht es den Menschen heute in Ihrer Stadt?
SHUT: Ich würde diese 16 Monate in drei Stadien einteilen: Das erste Stadium würde ich als Schock bezeichnet. Das zweite als Anpassung – an die neuen Bedingungen, das neue Leben, den Krieg. Und das dritte Stadium würde ich als schreckliche Erschöpfung bezeichnen. Die Zahl der Menschen, die psychologische, soziale, wirtschaftliche Unterstützung brauchen, ist stark gestiegen. Es gibt sehr viele Erkrankungen wie Krebs oder Herzinfarkte. Seit Monaten werden wir jeden Tag und jede Nacht von Raketen beschossen. Die Gefahr von Einschlägen besteht überall in der Ukraine. Die Warnungen gehen von Mitternacht bis sechs Uhr in der Früh, sie können sehr lange dauern. Der permanente Schlafmangel macht die Menschen krank, sie leiden darunter.
Das alles geschieht jetzt gerade mitten in Europa. Wie schon gesagt, wohnen wir nahe der Grenze zu Russland. Die Dörfer und Städte entlang der Grenze werden täglich beschossen – von Artillerie, Raketen, Kampfflugzeugen. Wir machen uns Sorgen, dass es zu einem neuerlichen russischen Einmarsch in unser Gebiet kommen könnte.
Das alles geschieht jetzt gerade mitten in Europa.
Svetlana Shut, Verein Viden
Gibt es jetzt ausreichend Lebensmittel, Medikamente, Hgyieneartikel?
SHUT: Die Versorgung funktioniert, aber die Produkte sind sehr teuer geworden. Die Pensionen und Löhne hingegen sind auf dem Vorkriegsniveau. Oft wenden sich Leute an uns: Sie erzählen, dass in vielen Familien das Geld nicht ausreicht, um Medikamente für kranke Angehörige zu kaufen. Es sind auch viele Vertriebene aus den umkämpften Gebieten in unsere Stadt gekommen. Ihnen widmen wir viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Viele haben Verwandte verloren. Ältere Menschen, die ihr ganzes Leben dem Bau ihres Hauses und der Pflege ihres Gartens gewidmet haben, haben auf einmal alles verloren. Es tut weh, das alles mit anzuschauen.
Wenn Sie in die Zukunft blicken – was erhoffen Sie sich?
SHUT: Wir wollen nur den Sieg, und das möglichst schnell. Ich wünsche mir auch, dass diejenigen, die die Ukraine verlassen haben – die Frauen mit ihren Kindern – zurückkehren, damit wir unser Land wieder aufbauen, mit Vertrauen und Liebe.
Was kann die EU, was können die Bürger:innen in Europa tun, um die Ukraine zu unterstützen?
SHUT: Ich finde, dass die Europäische Union in dieser Situation sehr gute Hilfe leistet. Ich wünsche mir nur, dass die Menschen in Europa den Kern dieses Konflikts verstehen: Wir schützen in der Ukraine auch die demokratischen Werte Europas! Dafür verlieren die besten Leute unseres Landes ihr Leben.
TRUGER: Wichtig ist, den Konflikt und die Menschen vor Ort nicht zu vergessen und sie spüren zu lassen, dass sie zu Europa gehören. Wir hoffen alle, dass dieser Krieg bald zu Ende ist. Auch nach Kriegsende ist viel zu tun für alle – für die Regierungen und die Zivilgesellschaft. Auch in den eigenen Ländern. Die Demokratie ist kein Geschenk, sie muss gepflegt werden. Wenn die Menschen in der Ukraine dafür kämpfen, sollten wir sie dabei unterstützen.
Interview: Christian Köpf