Wie sie mitten im Ukraine-Krieg Hilfe für traumatisierte Menschen organisiert und welche Hoffnungen sie für die Zukunft hat, erzählt eine Projektpartnerin* von Welthaus.
Sie leben in einer kleinen Stadt im Norden der Ukraine. Was passierte nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar und wie ist die Situation heute?
DARIA: Es passierte unerwartet. Natürlich spürten wir, dass etwas vor sich ging. Irgendwie lag der Krieg in der Luft. Aber wir konnten es uns nicht vorstellen. Am 24. Februar wurde ich um 4.30 Uhr durch einen Anruf meiner Kollegin geweckt. Sie sagte: Der Krieg hat begonnen. Ich öffnete das Fenster und hörte die Gefechte. Die Russen waren in der Nacht in die Stadt gekommen. Ich saß da und wusste nicht, was ich tun sollte. Dann fuhr ich ins Büro und nahm die Computer und wichtige Aufzeichnungen mit. Die Situation war beängstigend: Was sollten wir tun, wie alles organisieren, wo uns verstecken, was würde mit uns passieren? Man ist darauf nicht vorbereitet und will es nicht akzeptieren. Da wir nahe am Militärflughafen wohnten, zogen wir zu unserer Sicherheit zu einer Kollegin. Innerhalb von drei Tagen setzten wir unsere Arbeit aus dem Homeoffice fort. Wir mussten etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Finanzielle Mittel hatten wir noch, um die Menschen weiter zu unterstützen.
Unsere Stadt war 50 Tage lang von russischen Truppen eingekesselt. Am Beginn führten sie Gespräche über eine Kapitulation, aber die Stadt weigerte sich. Also schnitten sie uns von der Versorgung ab. Am nächsten Tag stürmten die Menschen die Geschäfte. Dann gab es nichts mehr zu kaufen: Keine Lebensmittel, keine Medikamente. Auch die Bankomaten funktionierten nicht. Viele hatten nicht einmal Nahrung für drei Tage. Wir wollten vor allem den sozial schwächsten Familien helfen. Innerhalb von ein paar Tagen sammelten wir Nahrungsmittel in einem Lager, dann verteilten wir Essenspakete an rund 200 Familien. Es war für mich sehr schmerzhaft zu sehen, wie sie reagierten: Mit Tränen in den Augen. Noch etwas hat mich sehr bewegt: Die Gesichter der Menschen wurden dunkel, innerhalb von 24 Stunden alterten sie sichtbar. Meine Kollegen, meine Nachbarn, jeder.
Und nach 50 Tagen zogen die Russen ab?
Ja. Sie wurden verlegt, um andere russische Truppen zu unterstützen. Als sie abzogen, verminten sie die Felder, Kindergärten, Schulen. Jetzt ist das ganze Gebiet vermint. Das ist sehr schwierig, etwa für die Bauern. Es gab bereits tragische Fälle mit explodierten Minen. Unsere Stadt liegt in der Region Sumy nahe der russischen Grenze. Sie schossen weiterhin praktisch jeden Tag und jede Nacht. Das Geheul der Sirenen ist Teil des Alltags geworden. Sie beschießen auch kleine Dörfer, wo vor allem ältere Menschen leben. Ich verstehe nicht, was sie damit erreichen wollen. Frauen erzählten, als sie in den Gärten arbeiteten, flogen die Hubschrauber so tief über sie hinweg, dass sie die Gesichter der Piloten sehen konnten.
Wie geht es den Menschen heute in der Region?
Es ist ein Trauma für die ganze Bevölkerung. Die Psychologen in unseren Projekten arbeiten rund um die Uhr – online und offline. Vielen haben Söhne oder Ehemänner, die im Krieg kämpfen. Einige haben Angehörige im Krieg verloren. Viele sind traumatisiert. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Und dann ständig die Sirenen. In der ersten Zeit nach Kriegsausbruch haben wir kaum geschlafen. Wir fühlten uns aber auch nicht müde. Eine Zeit lang geht das. Man hat genügend Energie und denkt, man ist okay. Doch dann beginnen gesundheitliche und psychische Probleme. Ich hörte zum Beispiel „Phantom-Sirenen“. Das bedeutet, ich hörte sie die ganze Zeit, auch wenn sie gar nicht losgingen.
Wie hilft Ihre Organisation den Menschen?
Gemeinsam mit Welthaus unterstützen wir hauptsächlich junge Leute: Durch unsere Jugendclubs, ein Tageszen-trum für Kinder aus sozial schwachen Familien und durch Kurse und Nachhilfeangebote. Diese Arbeit geht auch jetzt weiter, aus Gründen der Sicherheit findet sie zurzeit vor allem online statt. Familien in Not unterstützen wir mit Essenspaketen, Medizin sowie psychologischer und juristischer Hilfe. Wir haben auch ein Projekt für Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Gemeinsam mit deutschen Hilfsorganisationen haben wir ein altes Gebäude so hergerichtet, dass es für die Versorgung der Kinder sehr gute Voraussetzungen bietet. Ich hoffe, dass es nicht zerstört wird.
Welche Unterstützung wünschen Sie sich noch?
Zuerst einmal: Alles, was Welthaus tun kann, tut es. So gut und schnell wie irgendwie möglich. Welthaus ist die flexibelste Organisation, mit der wir zusammenarbeiten. Sie reagieren sehr schnell und durchdacht auf die aktuellen, tragischen Entwicklungen in unserem Land. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass uns so viele Menschen unterstützen werden. Das bedeutet uns sehr viel! Derzeit hat besonders die Hilfe für sozial schwache Familien und speziell für Kinder und beeinträchtigte Menschen höchste Priorität. Wichtig sind auch die Trainings für unsere Psychologen, damit sie der Bevölkerung helfen können, ihre Verluste und Traumata aufzuarbeiten. Einen Wunsch hätte ich: Vergesst uns nicht!
Die EU hat die Ukraine in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen. Was erwarten Sie sich davon?
Ich denke, dass die Ukrainer:innen seit langem beweisen, dass sie in einem demokratischen Staat ohne Korruption leben wollen, in dem die Menschenrechte respektiert werden. So viele Leben wurden dafür seit der Orangenen Revolution 2004 geopfert. Ich denke, wenn wir bereits in der EU wären, hätte dieser Krieg nicht passieren können. Der Kandidaten-Status ist ein guter Schritt. Ich hoffe, dass wir nicht zehn oder zwanzig Jahre lang nur ein Kandidat bleiben, sondern dass der EU-Beitritt bald erfolgen kann.
Was können die EU und die USA noch tun, um die Ukraine zu unterstützen?
Ohne Unterstützung des Westens können wir diesen Krieg nicht gewinnen. Wir brauchen mehr militärische Ausrüstung. Am tapfersten sind unsere Soldaten, jeden Tag verlieren viele ihr Leben. Um diesen Krieg zu beenden, muss der Druck auf Russland erhöht werden, sich aus unserem Land zurückzuziehen und die Ukraine unabhängig sein zu lassen. Andernfalls könnte sich dieser terroristische Akt im Zentrum von Europa bald an anderer Stelle wiederholen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um den Krieg zu beenden?
Als der Krieg begann, hatte ich die Hoffnung, dass er bald vorbei sein würde. Doch es scheint so, als werde er lange dauern. Es muss Verhandlungen geben. Aber ich bin kein Politiker, ich weiß es nicht. Was ich bestimmt weiß: Putin hat nur vor einem starken Gegner Respekt. Wir sind nicht bereit, alle seine Forderungen zu erfüllen, wir wollen nicht unter seinem Regime leben, niemals.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Natürlich wünsche ich mir eine gute Entwicklung für mein Land. Die Ukrainer:innen sind hart arbeitende Menschen. Ich wünsche mir Frieden für unser Volk, wir haben ihn uns verdient. Ich möchte in einem Land leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden und wo es keine Gewalt gibt, egal von welcher Seite. Unser Land hat so viel Potential. Ich hoffe und bete, dass meine Träume wahr werden.
* Aus Sicherheitsgründen werden der richtige Name und der Wohnort der Interviewpartnerin nicht genannt.
Welthaus und lokale Partner unterstützen die notleidende Bevölkerung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln. Helfen Sie mit! 40 Euro kostet derzeit ein Paket mit Lebensmittel- und Hygieneartikeln für eine/n Pensionist:in für einen Monat. Mit 70 Euro können wir im Moment ein Lebensmittelpaket für eine Familie finanzieren.
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